Max Scheler Die Sonderstellung des Menschen
Hier aber erhebt sich nun die für unser ganzes Problem
entscheidende Frage: Besteht dann, wenn dem Tiere bereits Intelligenz
zukommt, Oberhaupt nochmehr als ein nur gradueller Unterschied zwischen
Mensch und Tier - besteht dann noch ein Wesensunterschied? Oder hier gibt
es über die bisher behandelten Wesensstufen hinaus noch etwas ganz
anderes im Menschen, ihm spezifisch Zukommendes, was durch Wahl und Intelligenz
Oberhaupt nicht getroffen und erschöpft ist?
Hier scheiden sich die Wege am schärfsten. Die einen
wollen dem Menschen Intelligenz und Wahl vorbehalten und sie dem Tiere
absprechen: sie erkennen zwar einen überquantitiven Unterschied,
einen Wesensunterschied an, behaupten ihn aber da, wo nach meiner Ansicht
kein Wesensunterschied vorliegt. Die anderen, insbesondere alle Evolutionisten
der Darwin- und Lamarckschule, lehnen mit Darwin, G. Schwalbe und auch
mit W. Köhler einen letzten Unterschied zwischen Mensch und Tier
ab, eben weil das Tier auch bereits Intelligenz besitze; sie hängen
damit in irgendeiner Form der großen Einheitslehre vom Menschen
an, die ich als Theorie des "homo faber" bezeichne, und kennen
selbstverständlich dann auch keinerlei metaphysisches Sein, keine
Metaphysik des Menschen, d.h. kein ausgezeichnetes Verhältnis, das
der Mensch als solcher zum Weltgrund besäße.
Was mich betrifft, so weise ich beide Lehren zurück.
Ich behaupte: Das Wesen des Menschen und das, was man seine "Sonderstellung"
nennen kann, steht hoch über dem, was man Intelligenz und Wahlfähigkeit
nennt, und würde auch nicht erreicht, wenn man sich diese Intelligenz
und Wahlfähigkeit quantitativ beliebig, ja bis ins Unendliche gesteigert
vorstellte. Aber auch das wäre verfehlt, wenn man sich das Neue,
das den Menschen zum Menschen macht, nur dächte als eine zu den psychischen
Stufen: Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz
und Wahl noch hinzukommende neue Wesensstufe psychischer und der Vitalsphäre
angehöriger Funktionen und Fähigkeiten, die zu erkennen also
in der Kompetenz der Psychologie und Biologie läge.
Das neue Prinzip steht außerhalb alles dessen, was
wir "Leben" im weitesten Sinne nennen können. Das, was
den Menschen allein zum "Menschen" macht, ist nicht eine neue
Stufe des Lebens - erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform
dieses Lebens, der "Psyche"-, sondern es ist in allem und jedem
Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip:
eine echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf
die "natürliche Lebensevolution" zurückgeführt
werden kann, sondern, wenn auf etwas. nur auf den obersten einen Grund
der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine
große Manifestation das Leben ist.
Schon die Griechen behaupteten ein solches Prinzip und
nannten es "Vernunft". Wir wollen lieber ein umfassenderes Wort
für jenes X gebrauchen, ein Wort, das wohl den Begriff Vernunft mitumfaßt,
aber neben dem Ideendenken auch eine bestimmte Art Anschauung, die von
Urphänomenen oder Wesensgehalten, ferner eine bestimmte Klasse volitiver
und emotionaler Akte wie Güte, Liebe, Reue, Ehrfurcht, geistige Verwunderung,
Seligkeit und Verzweiflung, die freie Entscheidung mitumfaßt - das
Wort "Geist". Das Aktzentrurn aber, in dem Geist innerhalb endlicher
Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als "Person", in
scharfem Unterschied zu allen funktionellen Lebenszentren, die nach innen
betrachtet auch "seelische" Zentren heißen.
Was aber ist nun jener "Geist", jenes neue und
so entscheidende Prinzip ? Selten ist mit einem Worte so viel Unfug getrieben
worden - einem Worte, bei dem sich nur wenige etwas Bestimmtes denken.
Stellen wir hier an die Spitze des Geistbegriffes seine besondere Wissensfunktion,
die Art Wissen, die nur er geben kann, dann ist die Grundbestimmung eines
geistige Wesens, wie immer es psychophysisch beschaffen sei, seine existentielle
Entbundenheit vom Organischen, seine Freiheit, Ablösbarkeit - oder
doch die seines Daseinszentrums - von dem Bann, von dem Druck, von der
Abhängigkeit vom Organischen, vom "Leben" und allem, was
zum Leben gehört - also auch von seiner eigenen triebhaften .Intelligenz.
Ein "geistiges" Wesen ist also nicht mehr trieb-
und umweltgebunden, sondern "unlweltfrei" und, wie wir es nennen
wollen "weltoffen": Ein solches Wesen hat "Welt".
Ein solches Wesen vermag ferner die auch ihm ursprünglich gegebenen
"Widerstands"- und Reaktionszentren seiner Umwelt, die das Tier
allein hat und in die es ekstatisch aufgeht, zu "Gegenständen"
zu erheben und das Sosein dieser Gegenstände prinzipiell selbst zu
erfassen, ohne die Beschränkung, die diese Gegenstandswelt oder ihre
Gegebenheit durch das vitale erfährt.
Quelle:
Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bern-München: Francke 1975, S. 36-39 (Auszug, ohne Anmerkungen). |