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Was kann ich wissen ?

Dieser Frage muß eine andere vorangestellt werden, die Frage "Was ist Wissen?"[...] Wissen wird gegründet auf eigene, unausweichliche Einsicht im Gegensatz zum Glauben, dem "Für-wahr-Halten" aufgrund der Mitteilung einer Autorität, der man vertraut. Und Wissen besteht im echten Sinn nicht nur in der Feststellung von irgend etwas, sondern im Erkennen eines tatsächlichen Sachverhaltes aus seinen Gründen. Damit ist Wissen auf Vorgegebenes gerichtet, es bekommt eine Einstellung zum Vergangenen, das schon bereit ist, während Glauben mehr auf das Kommende schaut.[...] Vom Vergangenen kann man im geschichtlichen Sinne wissen, vom Zukünftigen gibt es kein echtes Wissen in diesem Sinn. Kant geht von Gebieten aus, bei denen nach seiner Darlegung apriorisches, das heißt, jeder Erfahrung vorangehendes Wissen besteht. Wissen also, das man nicht erst durch Erfahrung erwirbt.[...] das ganz große Feld der Erkenntnis aus Gründen des wissenschaftlichen Wissens gründet sich auf Erfahrung. Die Wissenschaft im engeren Sinn, vor allem die Naturwissenschaft, ist darauf gebaut.[...]

Was also kann ich wissen?

Zwei große Gegenstandsbereiche bieten sich dem forschenden, das heißt dem um Wissen bemühten Menschen an: die gesamte Natur, alles, was direkt oder durch Mittel (wie Mikroskope, Fernrohre) den Sinnen zugänglich ist. Das ist das eine Gebiet.[...] Hier sind wir im Raum der Erfahrung dessen, was wir nachprüfen können, was sich allen Menschen auferlegt und was Voraussagen, Vorausberechnungen, also auch Blicke in die Zukunft in beträchtlichem Umfang gestattet.[...] Die ganze riesige Welt der Technik ist auf diese Sicherheit gegründet.

Der andere große Bereich der Bemühung um Wissen ist der Mensch, die menschliche Gesellschaft und damit die Geschichte. Aber man spürt, da handelt es sich um eine andere Art des Wissens als etwa in der Physik.[...] Das [die Physik] ist zwingendes, unbestrittenes Wissen.[...] Hier spielt die subjektive Komponente, die Unwiederholbarkeit des Geschichtlichen, die Einmaligkeit herein.[...] Erkennen führt zum Wissen aus den Sachgründen des Geschehens, insbesondere aus den Wirkursachen. Verstehen ist eine menschliche Art des Wiederholens.[...] Es ist also Verstehen eine Art der Wissensbildung, die antropomorph, das heißt nach Menschenart begründet ist, auf das Menschliche im Geschehen bezogen ist.[...] Die Wissenschaft hat daher immer eine menschliche Komponente. Sie ist etwas vom Menschen Erkanntes und von ihm Ausgesagtes.

Die Natur selbst hat ihre eigene Weise, ist unauslotbar tief und groß und reich gegliedert.[...] Es ist unvorstellbar, daß der Mensch in seiner Erforschung der Natur je zu Ende kommen könnte. Naturwissenschaft ist echtes Wissen über die Naturdinge, aber es ist unvollständiges Wissen über die Natur und wird immer unvollständig bleiben. Die Fülle alles dessen, was in einer Naturgegebenheit und in einem Naturgegenstand beisammen ist, kann der Mensch nie ausschöpfen. Die Natur ist immer reicher; aber der einzelne Zug aus der Fülle der Seinsbestimmungen, der vom Forscher im Experiment isoliert gefragt wird, den gibt die Wissenschaft in Treue wieder. Und so wissen wir denn im echten Sinne vieles von der Natur und erfahren immer mehr.[...] und da mit dem erworbenen Wissen Macht und Gefahr verbunden ist, spürt der Mensch, auch der Forscher von heute, die Verantwortung.

Das aber bedeutet Kants zweite Frage : Was sollen wir tun ?

Quelle:
Dessauer, Friedrich "Was ist der Mensch ? Die vier Fragen des Immanuel Kant". Frankfurt am Main 1959 S.21-26